DER DESERTEUR

Vom “Vaterlandsverräter” zum staatlich gewürdigten Vertreter des österreichischen Widerstandes

 
 

Die „Fahnenflucht“ oder „Desertion“  gilt in allen Armeen als gröbste Form der Befehlsverweigerung und wird hart bestraft. Im Nationalsozialistischen Deutschland wurden die bereits geltenden strengen Strafvorschriften am 17. August 1938 durch die „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ weiter verschärft und für sogenannte „Eidbrecher“ im Kriegsfall die Todesstrafe vorgesehen. Zudem  wurde das Delikt „Zersetzung der Wehrkraft“ eingeführt, in dem Selbstverstümmelung, Kriegsdienstver­weigerung und selbst defätistische Rede, also pessimistische Äußerungen über den Kriegsverlauf, mit dem Tod bestraft wurden. Viele Soldaten der Wehrmacht verachteten auch nach dem Krieg Deserteure als „Kameraden­schweine“, „Feiglinge“ und „Verräter“.

In den ersten Nachkriegsjahren von 1945–1947 erlebten Wehrmachtsdeserteure jedoch eine kurze Phase der öffentlichen Wertschätzung. Der Hintergrund war die sogenannte „Moskauer Deklaration“ vom November 1943. Im Oktober 1943 hatten die Außenminister der Alliierten in Moskau getagt und von der österreichischen Bevölkerung gefordert, sie müsse durch Widerstandshandlungen zum Ende des NS-Regimes beitragen. Durch diesen Beitrag erst könne nach dem Krieg ein unabhängiges Österreich wiedererstehen. Der Text im englischen Original:

“Austria is reminded, however that she has a responsibility, which she cannot evade, for participation in the war at the side of Hitlerite Germany, and that in the final settlement account will inevitably be taken of her own contribution to her liberation.”

Eine der Absichten dieser Passage war es gewesen, Widerstand, Sabotage und Desertion in Österreich anzufachen. Nun ist es vielleicht ein Zufall, dass genau in diesen Tagen in Goldegg Karl Rupitsch sich entschloss, den Einberufungsbefehl zu ignorieren und sich zu verstecken. Nach dem Krieg, 1945 – 1946, sammelte die Österreichische Bundesregierung Berichte aus allen Gemeinden und Gendarmerieposten über solche Widerstandsdelikte. Auch der Bericht über die Wehrmachtsdeserteure aus Goldegg und Mühlbach floss in dieses „Rot-Weiß-Rot-Buch“ ein, das veröffentlicht wurde um ein „eigenen Beitrag“ zur Befreiung Österreichs nachzuweisen.

Bald geriet aber der Verdienst der Deserteure für die Wiederherstellung Österreichs in Vergessenheit. Die aus den Kriegsgefangenenlagern heimkehrenden Wehrmachtssoldaten dominierten den Diskurs in den Dörfern. In den Gemeinden wurden die Fahnenflüchtigen an die Ränder der Gesellschaft gedrängt. Auch die Politik zeigte Jahrzehnte keine Anzeichen der Wertschätzung.

Erst in den 1990er Jahren, als der Einfluss der Kriegsheimkehrer und der Kameradschaften immer mehr abgenommen hatte, entwickelte sich allmählich eine neue Debatte über die Verdienste der Wehrdienstverweigerer und Deserteure.

Im Jahr 2009 hat der Österreichische Nationalrat alle NS-Urteile gegen Deserteure aufgehoben. Die Republik würdigt in einem eigenen Gesetz, dass die Wehrmachts­deserteure durch ihre Dienstverweigerung zur Verkürzung des verbrecherischen Krieges und zur Befreiung Österreichs beigetragen haben.

Am  15. Oktober 2012 wurde Karl Rupitsch vom Landesgericht für Strafsachen Wien rehabilitiert. Dies war jedoch ein mühsames Unterfangen. Die Tochter von Rupitsch, Brigitte Höfert, hatte um eine Individuelle Rehabilitierung ihres Vaters angesucht. Diese wurde aber verwehrt, da vom zuständigen Staatsanwalt – auch nach intensiven Recherchen – kein schriftliches Urteil aufgefunden werden konnte. Dies war umso verstörender, als in der Gedenkstätte Mauthausen ein detailliertes, handschriftliches Hinrichtungsprotokoll vom 28. Oktober 1944 vorliegt. Erst langwierige Interventionen des Salzburger Abgeordneten Johann Maier und das Einwirken der jüngst verstorbenen Parlamentspräsidentin Barbara Prammer auf die damalige Justizministerin Beatrix Karl führten zu einer befriedigenden Lösung.


Literatur:

Fritsche, Maria. (2004) – Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht. Wien: Böhlau.

Koch, Magnus. (2008) – Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen. Paderborn/München/Wien/Zürich: Verlag Ferdinand Schningh.

Metzler, Hannes. (2011) – Nicht länger ehrlos. Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich. In Peter Pirker & Florian Wenninger (Eds.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (pp. 253-271). Wien: Braumüller.

Moskauer Erklärung über Österreich
vom 30. Oktober 1943


 Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz
2009


Merkblatt für Antragsteller
nach dem Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz 2009


Der lange Weg zur Rehabilitierung des Wehrmachtsdeserteurs Karl Rupitsch
Eine Dokumentation

 

Spät, aber doch rehabilitiert
Salzburger Nachrichten | 29. November 2012


Ohne NS-Akten "Opfer zweiter Klasse"
Der Standard | 23. März 2012


Der Amtsweg blockiert späten Ehrerweis
Salzburger Nachrichten | 19. Januar 2012